Autor: Alfred Ruf unter Mitwirkung von Christoph Wohlfarth

Gründung und Anfangsjahre des Betriebsrates bis 1984

In Unternehmen muss nach dem Betriebsverfassungsgesetz ab einer bestimmten Anzahl an Mitarbeitern ein Betriebsrat gewählt werden. Mit seiner großen Anzahl an Beschäftigten galt dies von Beginn an für die neu gegründeten Nylon Faserwerke GmbH in Östringen.

Auch die Geschäftsführung drängte auf die frühzeitige Wahl eines Betriebsrates. Mit dem Anlaufen der Produktion waren viele organisatorische Fragen wie die Gestaltung der Schichtarbeit, Besetzung und Bewertung von Arbeitsplätzen usw. zu klären, die der Mitbestimmung durch die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer unterlagen. Für den Abschluss entsprechender Betriebsvereinbarungen wurde daher dringend ein Betriebsrat als Ansprechpartner auf der Arbeitnehmerseite benötigt. So wurde bereits im Mai 1965 zum ersten Mal ein Betriebsrat gewählt. Wie wichtig diese Institution war, zeigte sich in der wechselvollen Geschichte des Östringer Faserwerkes. Beim Mutterkonzern in England dagegen war diese in der Bundesrepublik Deutschland gesetzlich verankerte Form der Arbeitnehmerbeteiligung an den betrieblichen Entscheidungsprozessen unbekannt und stieß oft auf Unverständnis.

Die Betriebsratswahl fand als getrennte Wahl statt, d. h. Arbeiterinnen und Arbeiter bzw. Angestellte wählten ihre Kandidaten getrennt entsprechend ihrem Anteil an der Belegschaft. Kandidieren konnte jeder, der mindestens 21 Jahre alt war. Wolfgang Twardocus, der über die Liste der Angestellten in den Betriebsrat gewählt worden war, wurde zum ersten freigestellten Betriebsratsvorsitzenden gewählt.

Ergebnisse der Betriebsratswahl vom Februar 1967, Faserspiegel II/2 vom März 1967

Zudem wurden bei den Betriebsratswahlen im Februar 1967 Werner Albrecht und Wolfgang Twardocus als Arbeitnehmervertreter in den Aufsichtsrat der ICI (Europa) Fibres gewählt.

Bericht über die Eröffnungssitzung des neuen Aufsichtsrates der ICI (Europa) Fibres GmbH, Faserspiegel II/6 vom Juni 1967
Aufmerksame Besucher in der Kantine bei einer Betriebsversammlung im August 1966

In regelmäßigen Abständen von etwa drei Monaten fanden Betriebsversammlungen in der Kantine statt, um die Belegschaft über die neuesten Entwicklungen zu informieren. Hierfür wurden zwei Termine mit der jeweils gleichen Tagesordnung angeboten, um auch den Schichtmitarbeitern die Teilnahme zu ermöglichen. Dabei war es üblich, dass zunächst ein Mitglied der Geschäftsleitung einen Überblick über die wirtschaftliche Lage des Unternehmens vortrug. Anschließend erfolgte der Rechenschaftsbericht des Betriebsrates. Oft wurden auch noch Vertreter der Gewerkschaft IG Chemie zu den Betriebsversammlungen eingeladen, die Referate über sozialpolitische, aus Sicht der Gewerkschaft wichtige Themen hielten, z. B. über die Tarifpolitik, den Kampf um die Mitbestimmung der Arbeitnehmer, die Auswirkungen des technischen Fortschritts auf die Arbeitswelt oder die Bedeutung der Berufsgenossenschaften.

Auszug aus einem Bericht über die Betriebsversammlung vom August 1966, Faserspiegel I/2 vom September 1966

Um die praktische Arbeit des Betriebsrates zu organisieren, wurden zu den verschiedenen betrieblichen Themen Ausschüsse gebildet, die sich aus mehreren Betriebsratsmitgliedern zusammensetzten. Beispiele hierfür waren der geschäftsführende Ausschuss mit dem Betriebsratsvorsitzenden und seinen Stellvertretern, der Wirtschaftsausschuss, der sich mit der wirtschaftlichen Lage des Unternehmens befasste, sowie der Bewertungsausschuss zur Prüfung und Bewertung von Verbesserungsvorschlägen oder der Kantinenausschuss.

Zusätzlich zu dem Betriebsrat gab es für bestimmte Gruppen in der Belegschaft weitere Interessensvertretungen, die eng mit dem Betriebsrat kooperierten:

Bericht über die Wahl der Jugendvertretung, ICI-Spiegel Nr. 19 vom Mai 1980
  • Die Schwerbehinderten hatten das Recht, alle zwei Jahre einen Schwerbehinderten-Vertrauensmann sowie einen Stellvertreter zu wählen, die für ihre Interessen einstanden. 
  • Die Auszubildenden wählten alle zwei Jahre ihre Jugendvertretung.

Nach der Gründung der Deutsche ICI GmbH mit Hauptsitz in Frankfurt im Jahr 1972 nahmen einige Abteilungen im Werk Östringen weiterhin kaufmännische Zentralfunktionen für andere Werke und Niederlassungen in Deutschland wahr. Darunter fielen z. B. die Buchhaltung, EDV und die Personalabteilung. Diese Abteilungen mit ihren Angestellten waren organisatorisch der Deutsche ICI GmbH zugeordnet und wählten ihren eigenen Betriebsrat. Somit existierten am ICI-Standort in Östringen bis zur Übernahme durch DuPont im Jahr 1993 zwei Betriebsratsgremien, jeweils eines für die ICI (Europa) Fibres GmbH sowie die Deutsche ICI GmbH.

Bericht über die Ergebnisse der Betriebsratswahlen 1984 im Werk Östringen, ICI-Spiegel Nr. 40 vom Juli 1984

Bereits gegen Ende der 1960er Jahre trübte sich das Marktumfeld auf dem Chemiefasermarkt ein und die Anfangseuphorie, die bis dahin im neuen Faserwerk vorherrschte, begann sich zu legen. Sinkende Nachfrage und Überkapazitäten auf dem Chemiefasermarkt, vor allem aber die erste Ölkrise 1973 mit ihren wirtschaftlichen Verwerfungen, führten Anfang der 1970-er Jahre zu den ersten Entlassungen im Östringer Faserwerk. Damit rückte für den Betriebsrat der Kampf um den Erhalt der Arbeitsplätze bzw. die Abmilderung der sozialen Auswirkungen von Entlassungen immer mehr in den Mittelpunkt. Neben vielen Vergünstigungen, die der Betriebsrat für die Belegschaft erreichen konnte, musste er in harten Verhandlungen mit der Geschäftsleitung oftmals schmerzhafte Kompromisse im Interesse der Erhaltung und Sicherung von Arbeitsplätzen eingehen. Dazu gehörte auch das Aushandeln von Sozialplänen wegen anstehendem Arbeitsplatzabbau.

1972 wurde mit Josef Kälbli ein neuer Vorsitzender des Betriebsrats der ICI (Europa) Fibres GmbH gewählt. Er prägte bis zu seinem Ausscheiden im September 1993 eine Ära als Betriebsratsvorsitzender und bestimmte als Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat maßgeblich die Geschicke des Faserwerkes mit.

Bericht zum Abschied von Josef Kälbli aus dem OE-Aktuell vom September 1993

Bericht von Alfred Ruf über seine Zeit als Mitarbeiter und Betriebsratsmitglied im Faserwerk Östringen von 1984 – 2010

Ich kann erst ab dem Zeitraum von 1984 berichten, dem Jahr, in dem ich meine Tätigkeit bei ICI begann. Zu diesem Zeitpunkt waren viele Voraussetzungen für gute Arbeitsbedingungen von den bisherigen Betriebsräten schon geschaffen.

Das Unternehmen war tarifgebunden und es galten die Tarifverträge der chemischen Industrie. Die Arbeitszeiten waren geregelt, es gab regelmäßige und pünktliche Lohnzahlungen, für kostenlose Arbeitskleidung war gesorgt und auch die Verpflegung der Beschäftigten war geregelt. Selbst in der Nachtschicht gab es eine warme Mahlzeit. Zu Weihnachten erhielten die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, die über die Feiertage arbeiten mussten, ein Geschenkpaket und für die Kinder der Mitarbeiter gab es kostenlose Theateraufführungen. Zahlreiche Buslinien sorgten für den umweltschonenden und günstigen Transport der Beschäftigten zur Arbeit. Sehr oft gab es auch Sonderzahlungen, die vom Betriebsrat mit der Geschäftsleitung ausgehandelt wurden.

Diese Zeit war geprägt von den Brüdern Erwin und Josef Kälbli. Sie waren an diesen Erfolgen maßgeblich beteiligt. Sie erkannten wie wichtig die Gewerkschaft für die Arbeit eines Betriebsrates ist und sorgten auch für einen hohen Organisationsgrad der Beschäftigten. Wer zu dieser Zeit bei der ICI ein Arbeitsverhältnis begann, wurde auch immer zum Betriebsrat geschickt und über dessen Notwendigkeit und die Wichtigkeit der Mitgliedschaft in der Gewerkschaft informiert.

So geschah es auch bei mir, als ich am 21. Mai 1984 mit meiner Tätigkeit bei der ICI begann. Zuvor hatte ich aufgrund meiner beruflichen Herkunft eigentlich nichts mit Gewerkschaft oder Betriebsrat zu tun. Trotzdem habe ich mich interessiert und engagiert und bin später dann auch in den Betriebsrat gewählt worden.

Damals gab es in Östringen noch zwei Betriebsratsgremien, den Betriebsrat der Deutschen ICI und den Betriebsrat der ICI (Europa) Fibres GmbH. Seit dieser Zeit wurden die Herausforderungen und Aufgaben der Betriebsräte immer vielfältiger und komplexer. Wurde zu diesem Zeitpunkt noch mit Lochkarten gearbeitet, gehörten diese nur wenige Jahre später schon der Vergangenheit an. Der technische Wandel vollzog sich rasant mit der Folge zahlreicher Kostensenkungs- und Rationalisierungsmaßnahmen und führte zu einem entsprechenden Personalabbau. Hinzu kamen die vielen Möglichkeiten, die die deutsche und europäische Gesetzgebung den Konzernen gab, um Steuersparmöglichkeiten umzusetzen. Zahlreiche Änderungen des Arbeitsrechts führten, z. B. durch die Einführung von Leiharbeitnehmern, zu neuen Tätigkeitsfeldern.

War ICI zu Beginn seiner Geschäftstätigkeit lange ein blühendes Unternehmen so kamen die ersten Eintrübungen mit der Aufspaltung des Konzerns in ICI und Zeneca. Bereits damals war zu erkennen, dass die renditestarken Sparten in der Zeneca-Gruppe positioniert wurden.

Neue Hoffnungen weckte dann die Übernahme durch DuPont im Jahre 1993. Leider war dem jedoch nicht so. Das Muster aus Betriebsaufspaltungen, Teilausgliederungen und Personalabbau zog sich bis zum bitteren Ende durch. Mit jeder Organisationsänderung, Aufspaltung und Veräußerung musste der Betriebsrat einen schmerzlichen Prozess begleiten. Dabei musste auch immer der Spagat zwischen Arbeitsplatzsicherung für die verbliebenen Mitarbeiter und sozialer Absicherung der vom Arbeitsplatzverlust Betroffenen gelingen.

Die wohl schwierigste Phase war die Zeit ab der Übernahme durch Koch Industries im Jahr 2004 bis zum bitteren Ende. Waren die Verhandlungen zwischen Betriebsrat und Geschäftsleitung davor noch in einem gewissen Rahmen von Vertrauen und Zuverlässigkeit geprägt, so änderte sich dies grundlegend. Es wurde immer mühseliger einen Kompromiss zu finden. So verhandelte man oft tagelang über das gleiche Prozedere. Ohne Unterstützung der Gewerkschaft IGBCE und der den Betriebsrat beratenden Anwälte und Wirtschaftsexperten ging nichts mehr. Diese Situation fand ich sehr belastend und nicht nur einmal nahm man diese Eindrücke mit nach Hause. Trauriger Endpunkt war dann die Schließung des Faserwerkes. Die letzte Verhandlungsrunde begann morgens um 09:00 Uhr und endete kurz vor Mitternacht.

Weitere Schwerpunkte der Betriebsratsarbeit waren u. a. die Ausgliederung der Versandabteilung, Änderung der Schichtpläne, zunächst im 7-Tage Rhythmus vom Rückwärtswechsel auf den Vorwärtswechsel und später Abkehr vom 7-Tage Rhythmus in kürzere Schichtwechsel. Diese Änderungen der Schichtpläne galten vor allen Dingen der Gesundheit der Mitarbeiter, um die Belastungen zu mildern.

Gewerkschaftsaktion auf dem Parkplatz der „Nylon“

Mit der Einführung eines neuen Entgelttarifvertrages wurde die Bezahlung und Einstufung neu geregelt und mit der Einführung des Tarifvertrages für Demografie und Lebensarbeitszeit kamen ganz neue Herausforderungen auf den Betriebsrat zu. So mussten neue Modelle für die Altersvorsorge entwickelt werden. Die IGBCE war damals die erste Gewerkschaft, die sich mit den Belastungen einer alternden Belegschaft und der Altersvorsorge in einem Tarifvertrag mit den Arbeitgebern auseinandersetzte.

Die freigestellten Betriebsräte während der DuPont-Phase um das Jahr 2000; v.l.n.r.: Hermann Bahr, Ilse Nadberezny (Betriebsratssekretärin), Gerhard Ronellenfitsch und der Betriebsratsvorsitzende Franz Sieber

All diese Herausforderungen konnten nur im Team gemeistert werden. Die maßgeblich handelnden Personen während meines Arbeits- und Betriebsratsleben bei der „Nylon“ waren zunächst der Betriebsratsvorsitzende Franz Sieber und seine beiden freigestellten Mitstreiter Hermann Bahr und Gerhard Ronellenfitsch. Später übernahm Martina Hürster-Gänzler das Amt der Betriebsratsvorsitzenden unterstützt von Gerhard Ronellenfitsch, dessen Nachfolge ich dann bei seinem Ausscheiden antrat. Seele des Betriebsratsgremium war in dieser ganzen Zeit unsere gute Fee für alles, Ilse Nadberezny, die leider schon früh verstorben ist.

Rückblickend war es für mich eine interessante, herausfordernde und lehrreiche Zeit, die mir auch persönlich viel an Lebenserfahrung brachte. Leider konnte aber die Schließung des Werkes und damit der Verlust vieler Arbeitsplätze und der finanziellen Grundlage vieler Familien nicht verhindert werden.

Kampf gegen die Werksschließung: Unter Beteiligung der örtlichen Bevölkerung protestieren die Mitarbeiter gegen die drohende Schließung der „Nylon“.

Leider gibt es in der heutigen Arbeitswelt immer mehr Beschäftigte, die nicht in einer Gewerkschaft organisiert sind und viel zu viele Betriebe, die keiner Tarifbindung unterliegen. Die Geschichte der „Nylon“ zeigt ganz deutlich wie wichtig ein Betriebsrat und eine starke Gewerkschaft für einen Betrieb sind. Sie sind die Grundlage für faire und gute Löhne und damit ein gutes Auskommen im Alter.

Der letzte INVISTA-Betriebsrat, 2010; als zweiter von links ist Alfred Ruf und außen rechts ist die Betriebsratsvorsitzende Martina Hürster-Gänzler zu sehen.