In einer kleinen Östringer Lagerhalle erweckt Walter Rothermel ein Stück europäischer Industriegeschichte wieder zum Leben

Mit zufriedenem Lächeln sitzt er in seinem alten Drehstuhl, die Hand fast zärtlich auf eine riesige Rolle Nylongarn gelegt. Die kurzgeschorene Haare und der kleine, filigrane Clark Gable Schnurrbart sind längst schlohweiß. Mit fast 80 Jahren ist Walter Rothermel an seinen alten Arbeitsplatz zurückgekehrt – Eine Welt in der er Jahrzehnte geschaltet und gewirkt hat und die bereits vor langer Zeit restlos von der Bildfläche
verschwunden ist.

Übersichtsfoto der 1. Ausbaustufe des Östringer Nylonwerks von 1965

Den wesentlichen Teil seiner beruflichen Karriere hat Walter Rothermel im Nylonfaserwerk Östringen verbracht, seinerzeit das größte Werk dieser Art in ganz Europa. Die alten Aufnahmen an der Wand, zeigen die Dimensionen dieses einstigen Giganten. Über viele Fußballfelder hinweg erstreckten sich die Produktionshallen, neben denen sich die vielen Nebengebäude wie Spielzeuge ausnahmen. 1963 wurde
die Anlage vom britischen Chemie-Riesen ICI errichtet, zu jener Zeit eines der größten Chemieunternehmen der Welt. In der damals für über 400 Millionen D-Mark erbauten, modernen Fabrikanlage, schmolz ICI Polymer Granulate ein und spann daraus feine Chemiefasern, besser bekannt als Nylon. Strumpfhosen, Hemden, Sportbekleidung – alltägliche Produkte aus Nylon entstammten damals mit einiger Wahrscheinlichkeit aus Östringen.


Walter Rothermel arbeitete sich damals als junger Mann bis ins Management des Faserwerks in seinem Heimatort Östringen nach oben. Er erlebte den Aufstieg, die goldenen Jahre und den Fall der milliardenschweren Branche aus nächster Nähe mit. 30 Jahre nach der Gründung, verkaufte ICI die Anlage an den einstigen amerikanischen Marktführer DuPont aus Wilmington, der trotz bereits zu dieser Zeit
verhaltener Prognosen einen dreistelligen Millionenbetrag in das Östringer Werk investierte um dessen Kapazitäten zu erhöhen. Weit über 100.000 Tonnen Textilfasern stieß das Nylonfaserwerk so Jahr für Jahr bis zur Schließung aus.