Autor: Otto Siegel

Es begann im Jahr 1986. In dieser Zeit kamen PCs auf den Markt und es gab in vielen Abteilungen zumindest einen PC, der aber mangels Kenntnisse oft verstaubte. Damals wurde die Abteilung Prozess-Automation gegründet, geleitet von Dr. Hans Neumann. Dieser wiederum berichtete an Manfred Müller, den Chef der Mess- und Regelabteilung. Ich selbst beendete in dieser Zeit das Studium an der Berufsakademie und kam als Programmierer dazu. Wir waren also in der Ingenieurabteilung organisiert und es gab eine strikte Trennung zur kaufmännischen EDV, die sich mit SAP beschäftigte.

Aufgabe unserer technischen Abteilung war der Einsatz von Computern an den Spinnmaschinen. Davon versprach man sich deutliche Verbesserungen und wollte praktische Erfahrungen sammeln. Aber wir mussten nicht ganz bei Null anfangen. Es gab bereits die Spinnmaschine X-15, die mit einem Computer (PDP11 von DEC) ausgerüstet war, außerdem gab es viele Kontakte zu den englischen Werken in Gloucester und Pontypool, wo man mit dem Computereinsatz schon deutlich weiter war. In England gab es nicht die Abneigung gegen die „Arbeitsplatz vernichtende“ EDV, die damals in Deutschland verbreitet war.

Das erste Projekt war die Instrumentenanzeige. Um an einer Maschine Garn erster Qualität zu fertigen, mussten rund 50 Werte stimmen, z. B. Temperaturen, Drehzahlen und Geschwindigkeiten, Drücke, usw. Alle diese Werte wurden früher mehrmals täglich von einem Operator abgelesen, jetzt ein Mal pro Minute vom Computer. War ein Wert nicht in Ordnung, z. B. eine Temperatur zu niedrig, wurde das auf einer Alarmliste angezeigt. So wurden Störungen sofort erkannt und konnten zügig behoben werden. Die betreffenden Spulen wurden ggf. abgewertet und nicht mehr an Kunden geliefert. Alle Werte konnten am Bildschirm angesehen und in einer kurzen Historie verfolgt werden. Als Langzeithistorie diente ein Ausdruck auf grün-weiß gestreiftem Endlospapier, das per Hand durchgeblättert wurde. Ein weiteres Projekt waren die Dofftimer. Je nach Produkt hatten die Spulen unterschiedliche Laufzeiten, z.B. sechs oder zwölf Stunden. Diese Zeiten wurden mit Computerhilfe überwacht und dem Operator wurde signalisiert, wann „gedofft“, d.h. die Spule gewechselt werden musste. Jeder der 48 Wickler einer Bank wurde einzeln gesteuert, daher beeinflussten Störungen an einem einzelnen Wickler die anderen nicht. Das war ein riesiger Fortschritt, denn in anderen Werken wurden alle Spulen einer Bank gleichzeitig abgenommen. Weitere Projekte folgten, z. B. Produktionsberichte mit Zahlen zu Ausbeute, Ausstoß und Auslastung oder das Packmanagement.

Weil schnell erkannt wurde, welches Potenzial in Computern steckt, wurde die Abteilung vergrößert. Sabine Lindenstruth und Jürgen Weiss kamen hinzu und wir beschäftigten uns mit den neuen X-25-Maschinen und den Stapelfaserstraßen, in die man große Hoffnungen setzte. Bei Sabine wussten wir nicht genau, ob sie im Falle einer Störung überhaupt nachts arbeiten durfte, denn unsere Systeme liefen rund um die Uhr und für Frauen galt vielleicht noch ein Nachtarbeitsverbot. Aber niemand wollte das so genau wissen.

Weil das PMS rund um die Uhr und über das Wochenende und an Feiertagen lief, mussten wir auch erreichbar sein. Zu dieser Zeit gab es aber noch keine Handys, sondern nur sogenannte „Piepser“. Das war ein Gerät etwa in der Größe einer Zigarettenschachtel, das am Gürtel befestigt wurde. Wenn unsere Dienste angefordert wurden, rief ein Meister die Piepsernummer an und das Gerät „piepste“, mehr tat es nicht. Darauf mussten wir ein Festnetztelefon oder eine Telefonzelle suchen und den Pförtner anrufen. Dieser wusste bereits, wo die Störung war und wir machten uns auf den Weg in die Firma. Es ist sicher verständlich, wieso sich dieses Gerät bei uns keiner großen Beliebtheit erfreute. Später, als wir Handys (Nokia) bekamen, war das eine deutliche Erleichterung.

Erste Zäsur war die Übernahme des Werks durch DuPont im Jahr 1993. Die neuen IT-Chefs wollten wegkommen von unserer selbst programmierten Software (RTL2 als Programmiersprache) und hin zu den Standardpaketen Setcim und IP21, die in Uentrop und England im Einsatz waren. Aus Uentrop kam auch der neue Chef, Christian Langer. Unsere Aufgabe war es jetzt, die „alten“ PMS-Programme durch die neue Software abzulösen. Diese bot tatsächlich viel Neues. Im PMS wurden grüne Texte auf schwarzem Grund angezeigt und man arbeitete nur mit Tastatur.

Mit Setcim und dem späteren Nachfolger IP21 kamen Farbe, Grafik und Maustechnik. So wurde z. B. eine Spinnmaschinenbank in Grün dargestellt mit allen Wicklern. Grün bedeutete, dass alles in Ordnung war und gewickelt wurde. Beim Doff (Spulenwechsel) oder einer Störung änderte sich die Farbe zu Rot. So konnte mit einem Blick der Zustand einer Maschine erfasst werden. Mit der Maus konnte man sich weiter zu Detailanzeigen durchklicken und Instrumente prüfen. Zu jedem Instrument gab es eine Historie über ca. ein Jahr. Außerdem ließen sich die Trendlinien mehrerer Instrumente auf den Bildschirm holen und die Anzeigen über verschiedene Zeiträume variieren, von z. B. einem Monat oder auch nur einer Stunde. Das war eine große Hilfe für die Produktentwicklung und Störungssuche. So konnten die Umgebung und Bedingungen verglichen und geprüft werden, z. B. Drücke oder Temperaturen. Eine weitere, wesentliche Neuerung war der Ausdruck von Spulenetiketten zum Doff. Auf diesem standen Produkt, Position, Zeitstempel und die Qualitätseinstufung („Grades“). So konnten die drei oder vier vorgedruckten Etikettenrollen für alle Qualitäten eines Prozesses eingespart werden. Auch die Datenbanktechnik hielt Einzug und es konnten riesige Datenmengen gespeichert und schnell abgefragt werden. Mit Setcim wurde an der Bank 7/8 begonnen, die auf neue Technik mit voll verstrecktem Garn (FDY – Fully Drawn Yarn) modernisiert wurde. Danach nutzte man jeden Umbau an einer Spinnmaschine zur Umrüstung auf die neue IT-Technik. Im vorderen Bereich waren das die 1/2, 5/6 und 15/16, im hinteren Bereich die Barmag-Maschinen 69–72 und die Extrudermaschinen 101/102. Im BCF-Bereich wurde die X25 umgestellt und im Stapelbereich die Straßen 2 und 3.

Im Jahr 1996 kam die Stilllegung des Werks in Uentrop und der Umzug der Maschinen nach Östringen, ein riesiges, mehrere Jahre dauerndes Projekt. Personell wurden wir immer wieder aufgestockt. Ray Jordan war schon früher in die Abteilung gekommen und Christian Rühl, Christian John und Thomas Kuklock kamen hinzu. Mitarbeiter der Firma Aspentech aus Holland, England und den USA waren dauerhaft vor Ort, um uns zu unterstützen. Meine Aufgaben wandelten sich wieder, ich musste viel Projektarbeit leisten und beraten. Diese Projekte hätten wir mit selbst geschriebenen Programmen wie zu Anfang niemals bewältigen können. Die Benutzer gewöhnten sich schnell an die Vorzüge von Setcim und dem Nachfolger Ip21, der auf Windows Servern lief. Überall im Betrieb hielten Computer Einzug, PCs und Server, auch im Labor und in den Teststationen. Die Daten aus den verschiedenen Systemen wurden in Datenbanken (Oracle und SQL-Server) zusammengeführt und wir erstellten ein übergreifendes Berichtswesen, das mit jedem Webbrowser zugänglich war. Neue Technik hielt Einzug und wir konnten oder mussten auch von zu Hause arbeiten.

Eine weitere, wesentliche Neuerung war der Ausdruck von Spulenetiketten zum Doff. Auf diesen standen Produkt, Position, Zeitstempel und Qualitätseinstufungen („Grades“). So konnten die drei oder vier vorgedruckten Etikettenrollen für alle Einstufungen eines Prozesses eingespart werden. Auch die Datenbanktechnik hielt Einzug und es konnten riesige Datenmengen gespeichert und schnell abgefragt werden.

Dann kam 1997 das Outsourcing-Projekt. Vorgabe des Konzerns war es, möglichst wenig selbst zu machen und wir sollten alle Leistungen einkaufen – egal, was es kostete. Kollegen wurden an die IT-Firma CSC ausgelagert, im kaufmännischen Bereich (SAP-Team) nahezu jeder. Deren Dienste wurden danach wiederum eingekauft. Was wir früher selbst machten, z. B. „schnell mal“ einen Server neu zu starten, musste jetzt bei CSC „beantragt“ und diskutiert werden und dauerte oft unerträglich lange. Mehr und mehr Verwaltung und Ärger waren damit verbunden und erschwerte die tägliche Arbeit. Das automatische Apparel-Spulenlager und das Hochregallager wurden von Anfang an und komplett von Fremdfirmen verwaltet, wir hatten nur ganz am Rande damit zu tun.

Auch die Jahrtausendwende, das Millennium, darf nicht unerwähnt bleiben. Es wurde befürchtet, dass Software versagen könnte, weil dort ein Datum oft ohne Jahrhundert gespeichert wurde. Als Beispiel: Das Jahr (19)99 wäre in Programmen jünger gewesen als (20)00. Daher wurde über viele Monate alle Software geprüft und akribisch nach Daten (Datums) durchsucht und ggf. repariert. Es gab viele Teams, die sich damit beschäftigten, in Östringen, in Europa und in der ganzen DuPont-Welt. Alles drehte sich darum und beinahe alle anderen Arbeiten blieben liegen. Zur Jahrtausendwende waren wir alle vor Ort im Werk, ausgerüstet mit Satellitentelefon und Taschenlampen. Doch zum Erstaunen aller und wider Erwarten gab es keinerlei Störungen!

Der Umzug von Uentrop nach Östringen brachte nicht den gewünschten Erfolg, man musste überall einsparen. Es gab nur noch wenige IT-Projekte. Schließlich, im Jahr 2003, wurde das Werk unter dem Namen INVISTA ausgegliedert und anschließend an Koch Industries verkauft. Im IT-Bereich kam es danach zum Stillstand, es wurde nur noch gepflegt, was bereits im Einsatz war, und es gab keine Weiterentwicklungen mehr. Ich musste mich damals in das Apparel-Spulenlager einarbeiten, um von der extrem teuren Wartung durch Siemens (sieben Tage * 24 Stunden pro Tag) wegzukommen. Immer öfter wurde ich jetzt zu Hause angerufen, wenn es nachts oder am Wochenende Störungen gab. Auch das Hochregallager kam auf diese Art dazu, wo ich immer wieder Support leisten musste, obwohl ich weder bei der Inbetriebnahme dabei gewesen noch jemand vor Ort war, den ich dazu befragen konnte.

Die nächste Zäsur kam 2006. Die israelische Firma Nilit übernahm das Apparel-Geschäft der INVISTA. Das Werk wurde aufgeteilt und es wurde Zusammenarbeit in gemeinsamen Bereichen vereinbart. Auch die Abteilung Prozess Automation wurde getrennt, ich wurde zum Chef des NILIT®-IT-Teams ernannt und Marc Wagenblass zu meinem Mitarbeiter. Somit waren wir also nur noch zu zweit. Plötzlich hatten wir über 50 PC-Benutzer als Kundschaft und mussten rund 100 PCs, ein Dutzend Server und das Netzwerk administrieren. Was zuerst unlösbar erschien, funktionierte dennoch, denn es gab direkte und effektive Kontakte zur Zentrale in Israel mit einem sehr guten Arbeitsklima. Die üppige und träge Verwaltung, die mit INVISTA, CSC und Nachfolgern gekommen war, war plötzlich Vergangenheit. Auch die Trennung zwischen technischer EDV und SAP wurde aufgehoben. Vor allem ging es wieder aufwärts mit der Produktion und es machte endlich wieder Spaß zu arbeiten! Der SAP-Rechner stand in Israel und man konnte damit ohne Verzögerung arbeiten, als wäre er vor Ort. Wie die Zeiten sich gewandelt hatten. In den frühen 1990er Jahren wurde noch heftig diskutiert, ob die PMS-Rechner im X-15-Computerraum nahe zu den Spinnmaschinen stehen mussten oder im entfernten Verwaltungsgebäude stehen konnten.

Ein größeres Projekt war die Einrichtung eines Blocklagers in der Halle 10, um das teure Hochregallager zu ersetzen. Das Verhältnis zwischen Nilit und INVISTA war anfänglich gut, man kannte sich ja noch aus Zeiten gemeinsamer Arbeit. Doch im Lauf der Jahre kühlte es ab und es gab mehr und mehr Streitereien, auch bei der IT. Das Verhältnis war schließlich zerrüttet, wie zwischen Vermieter INVISTA und dem Mieter NILIT®.

Wo war inzwischen das PMS aus den Anfängen in den 1980er Jahren geblieben? Auch an den letzten Tagen der Produktion liefen diese uralten Programme noch, denn der Umbau der Apparel-Spinnmaschinen vom PMS zu IP21 war durch Sparzwänge zum Erliegen gekommen. Für diese Maschinen lief PMS einfach weiter, es kam über Jahrzehnte hinweg ohne die üblichen Updates, schnellere Server und Neuerungen aus.

Ende 2010 beendete INVISTA die Nylon-Produktion. NILIT® machte danach noch einige Zeit weiter, bis 2011 auch hier das Ende verkündet und 2012 vollzogen wurde. Dazu mussten wir sämtliche IT-Geräte verschrotten: PCs, Server, Drucker und Netzwerkteile. Alles, womit wir jahrelang gearbeitet hatten. Das waren sehr traurige und bewegende Wochen nach meinen 29 Berufsjahren. Meine allerletzte Aufgabe war die Einrichtung der IT-Umgebung für ein kleines NILIT®-Vertriebsbüro in der Kolpingstraße in Östringen.

Nach der „Nylon“ arbeitete ich drei Jahre bei einer Firma nahe Vaihingen/Enz mit verschiedenen Aufgaben in der IT-Abteilung. Die Arbeit gefiel mir, aber die tägliche Wegstrecke war sehr lang und so wechselte ich 2015 zu einer Firma nach Bretten, wo ein Logistikzentrum mit einem automatischen Hochregallager in Betrieb genommen wurde. Hier konnte ich meine Erfahrungen einbringen und hier werde ich wohl in ein paar Jahren auch in Rente gehen. Gäbe es die „Nylon“ noch, würde ich sicher schon lange nicht mehr arbeiten, denn dort gingen Kollegen in der Regel vorzeitig in Ruhestand.